Manchmal braucht es eine Sicht von aussen um sich der Wert der eigenen Geschichte oder der eigenen Entwicklung bewusst zu werden. Die Gründung von Albisbrunn war eine der grösseren pädagogischen Innovationen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der deutschsprachigen Schweiz, dies sagte Dr. phil. Carlo Wolfisberg von der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik anlässlich seines Vortrages im November 2010 «Das ‹frühe Albisbrunn› im Kontext der Geschichte von Anstalten und Pädagogik im 19. und 20. Jahrhundert», welcher er im Rahmen einer internen Weiterbildung hielt. Und in der Tat, die Konzeption war einmalig, auch wenn in der Realität und im Alltag der Anspruch nicht immer eingelöst werden konnte.
In einer Festschrift, welche 1925 verfasst und Herr und Frau Alfred Reinhart gewidmet wurde, sind die ersten Ideen – heute würde man sagen Konzepte von Albisbrunn skizziert und festgehalten. Ganz im Sinne eines demokratischen Mitdenkens wurde die «Idee vom Albisbrunn» breit diskutiert und erarbeitet. Sie waren über «Wochen Gegenstand der Morgenbesprechungen der Mitarbeiterschaft Albisbrunn gewesen». Auch sind sie mit Fachleuten des Fürsorge- und Anstaltswesens intensiv besprochen worden.
Die Kinder, welche in Albisbrunn eingewiesen resp. aufgenommen wurden, sollten Umwelt- Lebens- und Arbeitsbedingungen vorfinden die unterstützend und fördernd waren. Der ursprüngliche Gedanke war, dem Zeitgeist entsprechend: «wollen wir Anstalten einrichten, die als Heim das Ideal der Familienerziehung bestmöglich anstreben». Die Idee war, eine Erziehungsgemeinschaft (der Mutter zugeordnet) und eine Erwerbsgemeinschaft (dem Vater zugeordnet) zu schaffen, allerdings «strenger getrennt arbeitend als in der Familie, aber vereint im Geist der Liebe zum notleidenden Kind verbunden». Hier waren die Gründer des Albisbrunn mit gutem Recht sehr zurückhaltend, wurde doch der pädagogische Auftrag der wirtschaftlichen Realität oft untergeordnet und die Kinder entsprechend behandelt.
Die Erziehungsgemeinschaft umfasste also ein internes Landerziehungsheim für Kinder, Schüler und Schulentlassene mit einer Kinderstube, einer Heimschule und wohl ausgebauten Einrichtungen der Arbeits- und Lebenslehre einerseits und einer externen Kolonie von einzelnen Pflegefamilien und in Arbeitsstätten untergebrachten Kindern, Schülern, Jugendlichen und Erwachsenen.
Es war schon zur Gründungszeit klar, dass die Erziehungsgemeinschaft nur funktionieren kann, wenn die Selbstkosten für den Aufenthalt der Jugendlichen gedeckt werden können und die dafür notwendigen Mittel auf irgendeine Weise beschafft oder aufgebracht werden. Die Idee von eigenen Werkstätten war naheliegend. Man war sich der Gefahr aber bewusst, dass die Betriebe sich dadurch «immer einseitiger auf Erwerb einstellen und dadurch Kraft und Können des Kindes über das erzieherische gebotene Mass hinaus in Anspruch nehmen». Es war den Gründern wichtig, dass die Betriebe auf Lehre und Erziehung und nicht auf Rendite eingestellt sind. So ist festgehalten: «Dass aber die Anstalt selbst aus der Zöglingsarbeit Vorteil und finanziellen Gewinn ziehen will, erscheint uns in erzieherischer Einstellung ein Unrecht am Kinde zu sein». Albisbrunn strebte eine konsequente durchgehende Trennung «des erwerbenden vom erziehen den Prinzip an». Diese in vielen Institutionen fehlende Trennung von wirtschaftlicher und erzieherischer Verantwortung wurde von ehemals betroffenen Kindern und speziell von Carl Albert Loosli als eine der Hauptursachen für den oftmals lieblosen, wenig fürsorglichen, ja ausbeuterischen Umgang mit den Kindern und Jugendlichen in den damaligen Anstalten angesehen. Die Aussagen in der Konzeption von Albisbrunn, welche 1924 / 1925 gemacht wurden und gerade in der heutigen Debatte zur Frage der Verdingkinder und Opfer der Fürsorgerischen Zwangsmassnahmen aufzeigen, welch fortschrittlicher Geist damals in Albisbrunn herrschte. Und was haben sich die Gründer unter der Erwerbsgemeinschaft konkret vorgestellt?
Die Erwerbsgemeinschaft: « …wird gebildet aus Männern und Frauen mit ernsthafter sozialer Einstellung. Zahlreich melden sich bei uns und anderswo immer wieder Menschen, die sich in der heutigen Wirtschaftsordnung nur sehr schwer zurecht finden können, die vor allem ihre Arbeitskraft und ihren Arbeitswillen nicht in den Dienst eines einzelnen Unternehmers mit individueller Gewinn- und Bereicherungsabsicht stellen wollen».
Von Beginn an wurden die Betriebe als konkurrenzfähige Produktionsbetriebe gestaltet, welche das Ziel hatten, Gewinn zu erwirtschaften um diesen dem Heim zugute kommen zu lassen. Gedanken machten sich die Betriebe auch über das was hergestellt werden soll. «Ausgeschlossen ist alles was das Volkswohl direkt oder indirekt schädigt». Von Anfang an klar war auch, dass die Betriebe nicht einfach gesicherte Arbeitsplätze im gewerblichen Bereich anbieten werden. Sollte ein Betrieb nicht rentieren, so wurde eine Auflösung resp. eine völlige Umstellung des Produktionsgebiets ins Auge gefasst.
Als dritte Aufgabe war angedacht, Mitarbeiter für die Erziehungsgemeinschaft heranzubilden und zwar in enger Zusammenarbeit mit dem Heilpädagogischen Seminar in Zürich. Es war vorgesehen, Kurse für Lehrkräfte, ErzieherInnen, Leiter von anderen Erziehungsanstalten und für die Schulen anzubieten und durchzuführen. Das erworbene heilpädagogische Wissen sollte auf breite Basis weitergegeben werden, immer in Hinsicht auf das Wohl der anvertrauten Jugendlichen.
Heute
Und was hat diese Gründerkonzeption mit dem Albisbrunn von heute zu tun? Erstaunlich viel. Natürlich, es gab Phasen, in denen Albisbrunn keineswegs den visionären Vorgaben der Gründerzeit entsprochen hat. Trotzdem sind die grundlegenden, konzeptionellen Überlegungen bis heute geblieben. Die Erziehungsgemeinschaft sind heute Sozialpädagogische Wohngruppen. Nicht mehr von Ehepaaren geleitet sondern von professionell ausgebildeten Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen geführt. Die Jugendlichen, welche sich heute in Albisbrunn aufhalten, sind Jugendliche in Entwicklungskrisen. Unsere Aufgabe ist es, ihnen die Fähigkeiten zu vermitteln die es braucht, um die Anforderungen in der Gesellschaft selbständig zu bewältigen. Eine wesentliche Zielsetzung ist es, dass die Jugendlichen einen Schul- oder Berufsabschluss erreichen und so zu einem wirtschaftlich unabhängigen Leben gelangen können.
Die Erwerbsgemeinschaft hat sich zu Ausbildungs- und Produktionsbetrieben gewandelt. Es liess sich nicht durchgehend realisieren, dass die KMU Betriebe derart erfolgreich wirtschaften, dass es möglich wurde Mittel ans Heim abzuliefern. Vielmehr war ein Minimalziel, die produktiven Leistungen kostendeckend zu erbringen und wenn immer möglich einen kleinen Gewinn zu erwirtschaften. Die Bedeutung der Betriebe liegt neben der Produktion von hochwertigen Arbeiten sehr stark auf der Ausbildung von Berufsleuten. Die Betriebe ermöglichen den Jugendlichen das Erreichen einer Ausbildung mit eidgenössischen Berufsattest oder einem eidgenössischen Fähigkeitszeugnis. Die Betriebsleiter führen nicht nur ein KMU, sondern sind auch Ausbildner und erteilen den Fachunterricht in der internen Berufsschule. Mit den Ausbildungen wird ein Mehrwert erreicht, der erheblich über dem Abliefern eines Gewinns an das Heim steht. Auch ergab eine externe Untersuchung, die im Frühjahr 2013 im Auftrag des Kantons Zürich durchgeführt wurde, dass diese Form der Ausbildung erheblich kostengünstiger ist als die Ausbildung in einer reinen Lehrwerkstatt.
Albisbrunn ist bis heute eine anerkannte Ausbildungsinstitution für Fachpersonen im pädagogischen Bereich geblieben. Zwar nicht mehr nur für Heilpädagoginnen und Heilpädagogen – diese unterrichten heute an der internen Sekundarschule. In den Wohngruppen passiert die Praxisausbildung für Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen. In jeder Wohngruppe arbeitet ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin in Ausbildung sowie PraktikantInnen mit.
Ein wenig stolz sind wir schon auf unsere Vorgängerinnen und Vorgänger. Dass sie den Mut hatten aus dem ehemaligen Kurhaus Albisbrunn das Jugendheim Albisbrunn zu machen und dies mit einer äusserst fortschrittlichen Konzeption. Dass die damals üblichen körperlichen Bestrafungen abgeschafft und die Angebote differenziert und wissenschaftlich überprüft wurden. Dass von Beginn an die Jugendlichen und die Mitarbeitenden aus Porzellangeschirr gegessen haben. Generell, dass Albisbrunn ein gastfreundlicher Ort blieb. Dass sie Intention in all den Jahren die soziale, schulische und berufliche Förderung von Jugendlichen in Entwicklungskrisen blieb. Wir tragen den Geist und die Flamme der Gründertage gerne weiter.
Ruedi Jans, Gesamtleiter
Ich war 3-4jahre im albisbrunn am räbberg